Trends der IAA 2019: Trendforscher Frank A. Reinhardt über die Zukunft der Mobilität
Die Automobilbranche ist in der wohl schwersten Umbruchphase seit der Erfindung der Serienproduktion durch Henry Ford. Mit sich neu entwickelnden Mobilitätskonzepten muss auch das Automobildesign eine Evolution durchlaufen, denn mit der Aufgabe, die Stellung des Konsumprodukts Auto in der Gesellschaft neu zu definieren, werden auch neue Identifikationsangebote benötigt. Auf der diesjährigen IAA wurde dieser Umbruch auf vielen Messeständen sichtbar. Eine ganze Branche ist auf der Suche nach einer neuen Identität.
Die Karten werden neu gemischt – die Autowelt startet bei Null
Endlich, möchte man laut ausrufen, haben alle Automobilhersteller die Zeichen der Zeit erkannt und den Wunsch der Autofahrer verstanden, etwas Positives mit der Mobilität zu verknüpfen und mit ihrer Kaufentscheidung einen Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels zu leisten. Doch wie kann dieser Wechsel sich rein optisch darstellen? Wie muss ein Auto aussehen, um den technologischen Paradigmenwechsel nach außen zu verkörpern? Das Auto war schon von jeher so etwas wie ein Spiegelbild oder Aushängeschild seines Halters und transportiert zusammen mit der jeweiligen Automarke wie kein anderes Konsumprodukt ein ganz bestimmtes Image. Wie also sollte ein strombetriebenes Auto aussehen? Woran erkennt man eine moderne Mobilitätsmarke? Die Weltenteilung zwischen konventionellen Antriebssystemen und akkubetriebenen Autos wird auf vielen Messeständen der IAA besonders deutlich – es wirkt fast, als stellten hier zwei gänzlich unterschiedliche Marken aus. Anscheinend halten die Hersteller es für nötig, dass die Designer der den technologischen Fortschritt in allen Fasern und Ecken des Automobildesigns aufzeigen müssen. Sie schreien förmlich: Schau, ich bin anders! Immerhin, das Auto hat (in der Regel) noch vier Räder und Sitze. Aber sonst? Eine ganze Branche ist auf der Suche nach einer neuen Formensprache. Sämtliche Gestaltungsprinzipien, die meisten tradierten Formenelemente einer über Jahrzehnten gelebten Formensprache und das Knowhow über gefälliges Automobildesign scheinen ihre Gültigkeit verloren zu haben und werden bei fast allen Automobilherstellern über den Haufen geworfen. Das Ergebnis: die neue Autogeneration sieht nicht nur abstrakt und emotionslos aus, sondern hat ihre Identität, die Verankerung in der jeweiligen Unternehmenskultur und an Markenprofil verloren. Wie viele Werbemillionen werde in den nächsten Jahren wohl investiert, um die Markenhierarchie in der Automobilwelt wiederherzustellen?
Ein Auto für Spock?
Wie müssen die Autos für die ökologisch orientierte Elite aussehen? Müssen die futuristisch anmutenden Entwürfe mit Ambitionen zur Serienreife die Early-Abdapters nicht ganz woanders abholen? Schließlich liegen die Preise für ein gutes Gewissen zum Teil noch deutlich über den „bösen“ SUVs der alten Autowelt. „In den 70er-Jahren war die Jute-Tasche das Symbol für die ökologische Revolution – und heute soll es ein Raumschiff mit vier Rädern sein?“ wundert sich Design-Journalist und Trendforscher Frank A. Reinhardt. „Auch wenn ökologische Nachhaltigkeit heute eher mit Fortschrittlichkeit und Hightech verbunden wird als mit einem Rückgriff auf traditionelle Lösungen erscheint ihm das Rezept „poppig, positiv, futuristisch: Hauptsache anders!“ zu plump. Gefragt sei keine Pseudo-Revolution, sondern eine formale Evolution. „Die Automobildesigner haben noch kein glaubwürdiges Symbol für e‑Mobilität gefunden. Nicht jeder Autofahrer mit ökologischer Überzeugung will einen Wagen, der aussieht, als würde er sich bei einem Casting für einen Science Fiction Film bewerben“, so Reinhardt. „Da muss es noch einen anderen Weg geben.“
In all dem formalen Herumexperimentieren gibt es aber auch positive Beispiele für eine gelungene Umsetzung der neuen Mobilität, so etwa beim vollelektrischen MINI Cooper SE. Die bekannte und beliebte Form des Minis musste dabei von den Designern bewahrt werden, und nur einige wenige Ausstattungselemente im Exterior Design zeigen den technologischen Fortschritt an. Auch der gefällige ID.3 von VW fiel auf der IAA positiv auf. Allein schon die enorme Anzahl der verfügbaren Prototypen auf dem Messestand macht klar, dass es VW ernst ist: „Der ID.3 hat das Potenzial, den Durchbruch der Elektromobilität in der Großserie einzuleiten. Das sieht fast nach einer neuen Käfer-Story aus“, stellt Frank A. Reinhardt erwartungsvoll fest. Bereits 2020 ist nach Angaben von VW geplant, dass Volkswagen weltweit 150.000 Elektroautos verkauft; ab 2025 sollen es mehr als eine Million pro Jahr sein. Überhaupt hat VW in Frankfurt sehr viel richtig gemacht. Der in den letzten Veranstaltungen eher nüchtern-cleane Auftritt des Volkswagenkonzerns wurde zugunsten eines Lifestyle-geprägten, funktional durchgestylten Messestandes aufgegeben und stand im Zeichen eines neuen Logos und der neuen Elektromobilität. Die Messebesucher nutzten ausgiebig die zahlreichen Sitzgelegenheiten und genossen die neue Aufenthaltsqualität. Neben dem gemütlichen MINI-Stand mit hohem Lifestyle-Faktor punktete noch ein Messestand mit vielen Insta-Fotomomenten. „Der etwas abgespeckte Mercedes-Stand in der Festhalle war zweifelsohne das Highlight der IAA. Da war zum einen das spektakuläre Glaspodest, das eine eindrucksvolle Perspektive auf die DNA des deutschen Autoherstellers bot. Der emotionale Auftritt stand dabei ganz im Zeichen nachhaltiger Lösungen für die Zukunft der Mobilität und beeindruckte mit einer durchgehenden Storyline und tollen interaktiven Inszenierungen“ so Frank A. Reinhardt über die Messestandarchitektur von Mercedes auf der IAA 2019.
Retro-Look und die Sehnsucht nach der guten alten Autozeit
Kein Trend ohne Gegentrend: Die Sehnsucht nach der guten, alten Autowelt ist ungebrochen. Der Handel mit Oldtimern boomt. Um an die Profilstärke von Silberpfeil und traditionellen Cabriolets anzuknüpfen, greifen viele Automobilhersteller zur Formensprache der Museumsmodelle mit Modernitätsgarantie. Ob Studien oder Serienmodelle: Der Retro-Look kommt gut an und ist vor allem im hochpreisigen Segment zu beobachten. Zudem werden Oldtimer-Besitzer mit grünem Gewissen von der Industrie unterstützt: Volkswagen Group Components zeigt gemeinsam mit Partnerfirma eClassics ein ganzheitliches Konzept zur nachträglichen Elektrifizierung historischer Volkswagen Käfer. Für die Umrüstung kommen hierfür ausschließlich aufeinander abgestimmte Neuteile aus der Serienfertigung der Volkswagen Group Components zum Einsatz. Der E‑Antrieb, das 1‑Gang-Getriebe und das Batteriesystem basieren auf dem neuen VW e‑up. „Viele Menschen sehnen sich nach der guten alten Autozeit, in der man seinen Ölwechsel noch selbst machen und einen kaputten Scheibenwischer mit einer Kordel reparieren konnte. Die damaligen Designelemente stehen für eine unbeschwerte Zeit, in der die Kinder während der Fahrt noch auf der Hutablage liegen konnten. Die tradierten Formen werden für eine bestimmte Zielgruppe wieder aktiviert und sind gerade für ältere Menschen ein Ankerpunkt in der aktuellen Revolution des Autodesigns durch die E‑Mobilität: ein Wachstumsmarkt, zumindest temporär“, so die Prognose von Frank A. Reinhardt.
Neue Farben braucht die Autowelt: Candy-Shop
Eine IAA ist auch eine gute Plattform, um neue Farben vorzustellen und ihre Wirkung zu testen. Die 2019er-Version der IAA wird wohl als Candy-Shop in die Geschichte eingehen. Die matten, leuchtenden Farben von Metallic-Mintgrün bis Baby-Blau sollen für den technologischen Fortschritt stehen – einfach deshalb, weil die tradierten Farben wie Weiß, Rot oder Schwarz für die alte Autowelt stehen. Einen einheitlichen IAA-Auftritt in Sachen Farbe legte allein BMW mit einem kräftigen und innovativen Grau hin.
Das Auto wird immer mehr zum Lifestyle-Produkt. Farbe, Form und Image der jeweiligen Automarke wird immer mehr dem eigenen Lebensstil – dem Eigenheim, dem Outfit und dem gesamten Einrichtungsstil – angepasst. Damit wird das Auto noch mehr als bisher zum Mittel der Wahl, um so etwas wie eine individuelle Eigenmarke aufzubauen. Frank A. Reinhardt
Das gute Gewissen – die elektrische Fahrt ins Grüne
Ja, so mancher Offroader macht sich nicht nur aus finanziellen, sondern zunehmend auch aus umweltpolitischen Gründen so seine Gedanken über den 20-Liter Spritverbrauch seines guten Stücks. Aber komplett auf sein Hobby verzichten möchte er dann doch nicht. So passt es perfekt, dass sich der E‑Antrieb auch für die Fahrt in Grüne eignet. Mit der Konzeptstudie Audi AI:TRAIL und ID. BUGGY von VW peilen die Hersteller einen neuen Markt an. Die neue Generation von Offroadern ist nämlich längst nicht mehr so scharf auf stundenlanges Rumschrauben und ölverschmiert Hände wie die alte. Wie geschaffen für den „Touchpoint Natur“ scheint auch die Konzeptstudie I.D. BUZZ von VW zu sein, die 2022 in Serie gehen soll. Auch der ungebrochene Boom an fahrenden Wohnzimmern (sprich: Wohnmobile) dürfte die Autoindustrie zu neuen Konzepten animieren.
Für mehr Geduld und Muße im Stau jedenfalls warb auf dem Armaturenbrett der modernen Bully-Variante ein kleiner, im Schneidersitz meditierender Gartenzwerg. In coolem Outfit (Keramikweiß mit gelber Mütze) ruhte er so sehr in sich, dass ihn selbst das agile Treiben auf der IAA vollkommen kalt ließ.
Weitere Informationen: Von Autos und Armaturen – Innovative Schulungsreihe für Axor